Der Psychologe Carl Rogers sagte, dass das Persönlichste zugleich das
Allgemeingültigste ist. Wenn wir unsere Erfahrungen miteinander teilen,
uns überhaupt mitteilen, so kann daraus jeder etwas für sich lernen und
verarbeiten.
Manchmal reicht hierzu vielleicht schon das Wissen darum: „Der geht’s ja
genauso wie mir!“ ... und das Gefühl mit allem allein zu sein darf
weichen.
Mein Vater ist heute vor 7 Jahren ganz plötzlich durch einen Unfall in den Bergen gestorben.
Genau wie es mir und meiner Familie damals passierte, bricht in solchen
Situationen die unabwendbare und unleugbare Wirklichkeit mit all ihrer
Sinnlosigkeit über uns Menschen herein und kann uns damit lähmen,
verschlingen, an unserem Leben zweifeln lassen.
Wenn wir einen uns nahestehenden Menschen verlieren, so wehrt sich vieles in uns gegen diese Tatsache.
Wenn wir den Sinn in den Dingen erkennen können, fällt es uns meist
leichter, sie zu verstehen und zu akzeptieren. Doch alles in uns wehrt
sich dagegen „Sinn“ zu erkennen, wenn ein geliebter Mensch von Krankheit
gezeichnet in einem Bett liegt und nicht mehr laufen, sprechen oder gar
bei Bewusstsein sein kann – wenn ein kleines Kind eine tödliche
Krankheit bekommt, wenn ein Baby bereits mit einem Loch im Herzen
geboren wird, wenn ein Mensch in der Blüte seines Lebens urplötzlich
daraus entrissen wird...
So wie andere Menschen uns keine Entscheidungen oder schwierigen
Konfrontationen abnehmen können, so können Sie uns auch keinen Sinn für
diese Ereignisse geben. Dennoch können uns Gespräche mit anderen
Menschen und ein Teilen der Erlebnisse oder der Sinnsuche wichtige
Impulse geben oder einfach das Gefühl vermitteln nicht allein zu sein.
In meiner sehr verschwommenen und teilweise aus Erzählungen der anderen
zusammengeflickten Erinnerung, habe ich über eine Woche lang geweint,
geschrieen wie am Spieß, gewimmert und geflucht. Ich war sehr laut und
meine Schreie sehr durchdringend. Gestoppt wurde dies nur gelegentlich
von meiner Erschöpfung. Nach kurzem Schlaf erwachte ich und es begann
erneut. Mein Körper war nicht in der Lage den Schmerz in sich zu halten.
Es gab kein Denken mehr, nur Fühlen. Der Schmerz überwältigte mein Sein
und musste hinausgeschleudert werden. Ich war nicht tapfer oder hielt
den Kopf hoch. Ich konnte nicht still sein. Ich konnte mich nicht
zusammenreißen. Mein Geist war nicht in der Lage mir dies einzuflüstern.
Aller Zuspruch und Versuche mich zu trösten oder meiner Trauer
beschwichtigend zu begegnen, erreichten mich nicht. Trost, der in meinem
Inneren Bestand haben konnte, musste für mich erlebbar, fühlbar sein.
Die mir nahestehenden Menschen haben sich über mich unterhalten, sie
waren verzweifelt, weil ich mich einfach nicht beruhigen konnte. Manche
glaubten, dass ich zerbrechen und es nicht schaffen würde. Eine Frau
sagte damals: „Ihr täuscht euch. Sie wird als Erste darüber hinweg
sein.“ Mit kurzem Blick auf das schreiende Wesen, das ich war, glaubte
ihr keiner der anderen. Ich weiß, dass es damals für alle, die mich
erlebt haben, eine schwere Zeit war. LEID zu sehen oder zu erleben ist
für die meisten schwerer, als eine schreckliche Tatsache zu begreifen
und anzunehmen.
In der zweiten Woche habe ich mit einer sehr guten Freundin sprechen
können, die ihren Vater bereits als Kind verloren hatte, ebenfalls durch
einen Unfall. Lange Zeit sprach nur sie. Ich hörte ihr zu und spürte,
dass es jemanden gab, der verstehen konnte, dass meine Welt plötzlich
nur noch wie von dichten Nebeln gedämpft wahrzunehmen war. Ich konnte
nicht verstehen, dass sie sich unaufhaltsam weiterdrehte, wo doch ein
mir so wichtiger Mensch einfach weg war! So viele Emotionen mischten
mit. Ich fühlte mich, als sei auch ich nicht mehr in dieser Welt,
sondern irgendwo hinausgeschleudert in einen anderen Zustand.
Irgendwann lag ich erschöpft auf dem Bett und erinnerte mich daran, dass
mein Vater uns schon Jahre zuvor immer sagte, dass er niemals lange
krank sein und „dahinsiechen“ möchte. Sein Wunsch wäre, nach einem
Marathon oder 100-km-Lauf einfach hinter der Ziellinie mit einem
Herzinfarkt oder Hirnschlag zu sterben. In unserer Familie wurde das
Thema Tod also nicht ausgeklammert oder verschwiegen. Als Kind und
Jugendliche wollte ich diese Worte natürlich nicht hören! Mein Vater war
schließlich jung und gesund und außerdem soll niemand sterben, den man
liebt. Doch in den Momenten der Trauer und Erschöpfung kamen mir seine
Äußerungen in Erinnerung und ein Lächeln zuckte zaghaft über mein
Gesicht. „Er hat es tatsächlich geschafft.“ In diesem Moment drang etwas
sehr Wertvolles in mein Bewusstsein, was mich seitdem nicht mehr
verlassen hat.
Dank der dortigen Bergwacht haben wir die letzten sehr fröhlichen und
dankbaren Worte meines Vaters, welche im Gipfelkreuzbuch zu finden
waren, erhalten. Als ich sie las, konnte ich in mir ganz deutlich
spüren, dass ich mich für meinen Vater auch freuen kann.
Im Angesicht des Todes verlieren sonst so wichtige Fragen wie „Darf ich
das? Ist das gesellschaftlich akzeptiert? Was werden die anderen
denken?!“ ihre Bedeutung. Ich habe auf der Beerdigung mit anderen
Trauernden genau darüber gesprochen und sowohl meine Freude für ihn, als
auch meine Trauer ausgedrückt. Es steht völlig außer Frage, dass man
einen geliebten Menschen „behalten“ will, es unerträglich ist, diesen zu
vermissen und mit dem Wissen zu leben, was man alles nie wieder
gemeinsam erleben wird!
Ich konnte SINN in diesem Geschehen finden. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Dieses Erlebnis brachte sehr viele dunkle Stunden, aber auch viel
Klarheit in mein Leben. Es öffnete meinen Blick auf das Leben in
vielfältiger Weise.
Und jetzt, Jahre danach, lese ich in einem Buch, dass bei vielen
Naturvölkern dieser Erde ein ungehemmtes Schreien, Stöhnen und Klagen
als Heilmittel bei körperlichen oder seelischen Schmerzen eingesetzt
wird. Der Körper erhält Erlösung und Milderung all jener Spannung, die
der Schmerz und die Angst auslösen.
Damals haben weder ich selbst noch die mir nahestehenden Menschen darum
gewusst. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich von niemandem gehemmt wurde
und mein Schreien meinen Körper von diesem Schmerz erlösen durfte.
Diese persönliche Geschichte schreibe ich heute auf, weil mich das Zitat
von Carl Rogers dazu bewegt hat. Nur deswegen teile ich sie nach all
der Zeit mit. Die meisten Menschen tendieren dazu, den Tod und das
Sterben zu verdrängen und aus Gesprächen herauszuhalten, womit sie eine
Kultur unterstützen, in die der Tod nur plötzlich hereinbrechen kann, da
ihm eine Anwesenheit im Leben und Alltag nicht gestattet wird.
Möge mein Teilen dieses Erlebnisses anderen Menschen helfen den Tod und
all seine Unerbittlichkeit mit anderen Augen zu sehen, andere
Möglichkeiten und Werte zuzulassen und vor allem: dem Tod einen Platz in
unserem Leben zuzugestehen.
Lassen wir dies zu, statt zu verdängen, so bekommen wir die Chance zur Wandlung und zur Hingabe an die Gegenwart.
An dieser Stelle möchte ich mit einem Zitat aus Dirk Grossers Buch
„Selbst ein Anfang sein“ enden, das wunderbar umschreibt, was beim
Schreiben und Nacherleben in mir vorging und mich begleitete:
„Wir selbst können Worte schreiben oder sprechen, die im Inneren
anderer Menschen eine Flamme entzünden. Wir können die Zerbrechlichkeit
des Lebens und seine immense Zärtlichkeit in uns spüren und diese
Zärtlichkeit durch unser achtsames Sein an die Welt zurückgeben. Jedes
Wesen, das stirbt, war sein eigenes Wunder, welches für eine gewisse
Zeitspanne aufschien, wirklich hier war, mit anderen Wesen verbunden war
und unseren Kosmos um eine entscheidende Facette bereicherte.“